Blüten und Frost

GRAFI + crystalf44 Cassiopeia, Berlin am 01.12.22

Donnerstag 01.12.22
Einlass: 19.00, Beginn: 20.00
Cassiopeia, Revaler Str. 99, 10245 Berlin

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Informationen

                                                                       

Wenn die Sonne hinter den angegrauten Hochhaussilhouetten Westberlins verschwindet, erwacht Grafi zum Leben. Zu pathetisch? Geschenkt. Aber irgendwie liegen sie ja nahe, die Vampirreferenzen. Speziell Grafis neuestes Werk, sein viertes Album »Blüten und Frost«, ist geradezu gespickt mit Geschichten vom Leben als Loner, von »Magic und Tränen«, »Adern voller Gift«, »Hexen und Feen«, »rabenschwarzen Tagen« und von Alpträumen zersetzten Schlafphasen. Und machen wir uns nichts vor: eine seltsam-sympathische Fabelwesen-Aura umgibt Grafi spätestens seit seinem Karrierestart.

                       

1985 in Würzburg geboren versucht sich Grafi schon mit dreizehn an ersten Raptexten. Er fühlt sich zur Subkultur hingezogen, fährt Skateboard, »schreit« - wie er erzählt - irgendwann in Metal- Bands. Sobald es ihm möglich ist, verlässt er die Einöde in Richtung Berlin, wo er ab 2016 - inspiriert durch die Stücke des US-Rappers Bones - seine musikalischen Vorlieben vermischt. Stück für Stück entwickelt er einen unvergleichlichen Sound, der Trap-typische Rhythmik, Triebkraft und Schärfe mit Punkrock-esker Antihaltung und Ignoranz, an skandinavische Metal- Spielarten erinnernde Gitarreneinschübe und epochal-harmonische Dark-Pop-Elemente in sich vereint. 2017 erscheint sein erstes, damals komplett auf eigene Faust produziertes Album »Geistermusik«, das dem »Winteralbum« »Unter Null« einen ersten Untergrund-Hype vorausgehen lässt. Während sich die Strukturen professionalisieren, platzt Grafis dritte Platte »Ektoplasma« in einen vom Lockdown überschatteten Frühling 2020. Wie schon »Ektoplasma« entsteht schließlich auch die EP »GLUT« - Grafis bis hierhin letztes Release - in enger Zusammenarbeit mit Produzent KCVS. Strahlte »GLUT« für Grafis Verhältnisse positive Vibes aus, ist »Blüten und Frost« jetzt wieder mehr Konfrontationstherapie, ja, beinahe Salzstreuer auf halboffene Schnittwunden. Alle neun Songs sind das unmittelbare Ergebnis der letzten zwölf Monate - und die waren gehetzt, waren winterlich, waren dramatisch und abgründig. Grafis Gedanken kreisten - nicht selten überladen vom Lärm der Millionenstadt - oft um düstere Phantasien, den Blick in eine dystopische Zukunft und nicht zuletzt immer wieder ganz konrekt um den Tod. Gleichzeitig war da aber auch immer Liebe, war da immer Freundschaft, war da immer eine alles Negative konternde Leidenschaft in ihm. Für Grafi, das ist »Blüten und Frost« in jeder Sekunde anzuhören, scheint es beinahe überlebenswichtig zu sein, intimste Bestandteile seines Seelenlebens in die Welt zu Schreien, zu Singen, zu Rappen, zu Heulen - vermutlich ist es vor allem das, was die Platte vom Introsong an zum packenden Erlebnis macht.

                       

Ob im bereits ausgekoppelten Hassliebe-zu-Berlin-Komplex »20 Messer«, in der Ballade »Red Drama«, die ein vertracktes, für Grafi häufig überforderndes Beziehungsmodell verbildlicht oder der Weltschmerz-Hymne »Alles verblasst«: Immer wieder geht es um unvermeidliche Zusammenstöße und Konflikte zwischen Anziehung und Enttäuschung, Liebe und Hass, ja, Blüten und Frost. Zwischendurch trumpft Grafi mit Batterap-Attitüde auf - im Vibe-Track »Glitzernder Schnee«, vielmehr aber noch in »Skimaske«. Hier rechnet Grafi auf brachiale Art mit Musikindustrie und Red-Carpet-Scheinwelt, um sein Bedürfnis nach Abgrenzung anschließend in »Keiner von uns« final zu manifestieren. Gegen Ende rückt Grafi den Themenkomplex Tod immer unmissverständlicher in den Fokus. Dass er im Song »Mausoleum« laut und schonungslos über den Moment seines Lebensaustritts philosophiert, mag seine ZuhörerInnenschaft im ersten Moment schocken, ist vor dem Hintergrund mehrerer überlebter Schlaganfälle in den letzten Jahren für Grafi aber längst kein tabuisierter Move mehr. Dass Grafi das Album schließlich dennoch mit dem als direkter Gegenentwurf interpretierbaren »Ich bleibe« abschließt, zeigt, dass ihm »Blüten und Frost« selbst dabei geholfen hat, sich ein stückweit von Ängsten und Dämonen zu befreien. Ob Grafi schon bald das über die Grenzen der Bundesrepublik bekannte Gesicht der vierten Black-Metal-Welle oder einfach nur die Personifizierung der Revolution einer im kreativen Loch stecken geblieben Deutschrap-Szene sein wird, dürfte für ihn selbst vor diesem Hintergrund ziemlich egal sein.